Umgang mit einer Diagnose – ein Appell an mehr Empathie

„Euer kleines Paket hat übrigens schon sehr weitergeholfen. Nach einer wirklich schrecklichen Erfahrung an der Uniklinik Frankfurt, habe ich in eurem kleinen Heft den Namen Dr. Corinna Grasemann gelesen. Sie wurde sehr für ihre empathische und sensible Art sowie ihr Fachwissen gelobt. Daraufhin habe ich sie gleich kontaktiert und freue mich nun sehr, dass wir bald zu ihr kommen dürfen.“ 

Unser Sohn ist heute 15 Jahre alt. Seit seinem achten Lebensjahr lebt er mit Epilepsie. Um die Ursache zu finden, wurde in diesem Jahr eine genetische Analyse durchgeführt. Diese brachte uns auf die Diagnose: Klinefelter-Syndrom.

Die Untersuchung erfolgte am humangenetischen Institut der Uniklinik Frankfurt, das kürzlich neu eröffnet wurde. Dass dort noch nicht alles reibungslos läuft, ist nachvollziehbar. Was jedoch nicht entschuldbar ist, ist die mangelhafte Kommunikation. Schon im Vorfeld hatten wir den Eindruck, dass dort nicht besonders sensibel mit Patient:innen umgegangen wird – deshalb hatte ich unseren Sohn zunächst nicht selbst dorthin mitgenommen. Ich wollte mir erst ein Bild davon machen, wie die Diagnose übermittelt wird. Leider bestätigte sich unser Eindruck: Die Abläufe waren chaotisch, die Gesprächsführung unstrukturiert.

In der Hoffnung auf mehr Einfühlungsvermögen wandten wir uns an den Endokrinologen. Ich führte im Vorfeld ein Gespräch mit ihm, um ihn zu bitten, besonders vorsichtig und sensibel mit unserem Sohn umzugehen. Unser Sohn ist sehr feinfühlig und befindet sich – wie viele Jugendliche in seinem Alter – in einer emotional herausfordernden Phase. Wir als Eltern wollten unbedingt vermeiden, dass die Diagnose ihn psychisch belastet oder gar in eine Depression führt.

Trotz dieses Vorgesprächs war das Gespräch mit dem Spezialisten eine Katastrophe. Einige Aussagen, die unser Sohn sich anhören musste:

  • „Ja, da fragt man sich dann als Mann: Bin ich ein richtiger Mann… bin ich ein richtiger, richtiger Mann… bin ich auch ein richtiger, richtiger, richtiger Mann…?“
  • „Du hast ja doch schon Haare am Sack – ach, das hätte ich jetzt aber nicht gedacht…“
  • „Unfruchtbarkeit ist jetzt für dich vielleicht noch kein Thema, aber später will ja jeder Kinder – und das musst du dann auch erstmal einer Partnerin erklären…“

Der Arzt war nicht zu bremsen. Nach der Untersuchung sagte er:
„Ups, der Testosteronspiegel ist doch altersgerecht. Da brauchen wir erstmal nichts machen. Aber gehen Sie unbedingt mit ihm zur Andrologie und lassen Sie schon heute Samen einfrieren…“

Auf die Frage, ob es nicht übergriffig sei, einen 15-Jährigen zu einer Samenspende zu drängen, konnte er keine Antwort geben.

Wir waren fassungslos. Der Wunsch nach medizinischer Kompetenz gepaart mit Empathie war groß – und wurde bitter enttäuscht. Zwei Tage später hielten wir eure Broschüre in der Hand. Sie war ein Lichtblick. Wir haben uns entschieden, der Uniklinik Frankfurt den Rücken zu kehren und künftig zu Frau Dr. Grasemann zu gehen, die glücklicherweise an die Uniklinik Mainz wechselt – dorthin, wo wir seit 13 Jahren in der Neurologie betreut werden. Unser Sohn fühlt sich dort gut aufgehoben.

Das Gespräch mit dem Endokrinologen hat uns alle sehr belastet. Durch viele Gespräche zu Hause, intensive Recherche und die Unterstützung durch die Website und Broschüre des Vereins 47xxy Klinefelter e.V. konnten wir das Erlebte langsam verarbeiten.

Ein Appell an alle Ärztinnen und Ärzte:

Sie sehen täglich viele Schicksale – manche davon schwerwiegender als andere. Doch bitte vergessen Sie nie: Für jede Patientin und jeden Patienten ist die eigene Diagnose ein Einschnitt. Und für Jugendliche, die sich ohnehin in einer emotional sensiblen Phase befinden, kann eine solche Nachricht das Selbstbild tief erschüttern.

Empathie ist keine Zusatzqualifikation – sie ist ein essenzieller Teil Ihrer Verantwortung. Ihre Worte können heilen, aber auch verletzen. Bitte wählen Sie sie mit Bedacht.